Ötztaler Radmarathon: 1, 2, 3, 4 … und …


“Bing!” Das Mail landete am 31. Jänner, punkt 18:00 Uhr in meiner Mailbox. In der Betreffzeile ein geöffnetes Schloss und die Information “Das Registrierungsfenster ist offen.” Absender: Ötztaler Radmarathon. Mehr war an dem kalten, stürmischen Wintertag nicht nötig, um ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch auszulösen. Es ist wieder einmal so weit. Es ist Ötzi-Zeit. Wenige Minuten später waren auch schon ein Appartement in Sölden reserviert und die Jungs aus dem Radsportverein per WhatsApp informiert.

1: Das Kühtai / 2017
“Der Ötztaler Radmarathon? Ja spinnst du?” 2017 waren sich Kollegen, Freunde und Familie einig: “Jetzt hat er komplett den Verstand verloren.” Doch je mehr Gegenwind kam, desto mehr reifte der Gedanke in meinem Kopf. Und die Überzeugung: “Ich kann das!”

Dann hatte ich tatsächlich Losglück und rutschte auf die Startliste. Ohne Ahnung, was es bedeutet, 238 km und 5.500 Höhenmeter am Stück und mit einer erbarmungslosen Cut-off-Zeit zu fahren, machte ich mich daran, mich auf das Rennen Ende August vorzubereiten. Noch waren gut fünf Monate Zeit.

Die Ausgangslage war bescheiden. Ich war bis dahin nur selten 100 Kilometer oder mehr am Stück und im Jahr gerade einmal 2.000 Kilometer gefahren. Mein großes Ziel war daher “Finishen”. Und bis zum Tag des Rennens Schluss war ich mir nicht sicher, ob das auch bringen würde. Aber als ich wenige Tage vor dem Rennen auf das YouTube-Video vom Besenwagen aus dem Jahr 2016 stieß, war das der letzte, noch nötige Motivationsschub. Ein halbes Jahr Vorbereitung, und dann mit dem Besenwagen ins Ziel zu fahren? Nicht mit mir!

“Heimkehren”: Der Besenwagen als abschreckender Ansporn.

Ich hatte zuvor nur an einigen kleineren Radrennen teilgenommen, aber der Ötzi war doch eine ganz andere Schuhnummer. Und Sölden bei der Ankunft eine Überraschung. Das Rennen war keine Randerscheinung mit einem kleinen, in einem abgelegenen Winkel eingerichteten Start-Ziel-Gelände. Der ganze Ort war dafür herausgeputzt und feierte Radmarathon. Denn der Ötzi ist keine von ein einer Handvoll Enthusiasten organisierte Rundfahrt, sondern ein echtes Fest. Perfekt organisiert und in Szene gesetzt und von tausenden freiwilligen Helfern begleitet. Inklusive Live-TV-Übertragung.

Am Renntag rolle ich kurz nach 6 Uhr morgens vom Quartier zum Start und bin wieder erstaunt: Die Teilnehmer stehen bereits weit nach hinten an der Dorfstraße und warten auf den Startschuss um 6:45. Damit hatte ich nicht gerechnet. Doch die Anspannung und Aufregung, die allen ins Gesicht geschrieben ist steckt mich schnell an. Wie alle anderen zupfe ich ständig an meiner Kleidung herum, kontrolliere zum x-ten Mal den Reifendruck und lege noch einen Power-Riegel nach. Energie. Kann. Man. Beim. Ötzi. Nicht. Genug. Haben.

Dann der erlösende Kanonenschuss, der an meiner Position aus kaum zu hören ist, es sind mehr der Jubel und das Klatschen der Teilnehmer, die verraten, dass es losgeht. In ein paar Minuten. Wenn das Peloton auch weiter hinten, wo ich stehe, zu rollen beginnt.

Die Abfahrt nach Ötz im dichten Feld ist nichts für schwache Nerven. Permanent sausen links und rechts andere Teilnehmer an mir vorbei, der Weg wird einige Male ziemlich eng. Es gibt einige Momente und Kehren, an denen ich stark bremsen muss. Ich fühle mich nicht wirklich wohl und lasse mich weiter zurückfallen, um dem Gedränge zu entkommen, konzentriere ich mich auf meine Fahrt und achte darauf, nicht schon bei der ersten Abfahrt aus dem Rennen zu fliegen.

Dann der erste Berg. Das Kühtai. 1200 Höhenmeter, die mit einer knackigen Rampe beginnen, die das Peloton weit auseinander reißt. Die Favoriten und Siegfahrer haben sich längst abgesetzt und fahren ihr eigenes Rennen. In einer anderen Liga. Way out. Doch mitten im Peloton, bin ich umringt von Alltags- und Hobby-Fahrern, den Abenteurern der Landstraße, die zum ersten Anstieg ansetzen. Und damit genauso zu kämpfen haben wie ich.

Die Hektik der vorangegangenen Abfahrt ist bald einem monotonen, gleichmäßigen Schnaufen gewichen. Alle sind bemüht, ihr Tempo zu fahren und möglichst nicht zu viel Körner am ersten Berg liegen zu lassen. Einige Flachstücke zwischendurch geben Zeit zum Durchschnaufen. Am Ochsengarten angelangt glaube ich kurz, schon den Kühtaisattel erreicht und den ersten Berg bezwungen zu haben, doch von dort sind etliche Kilometer und gut 300 Höhenmeter bis ganz nach oben, zum Skigebiet und der ersten Labstation. Die ich – wie dann auch in den folgenden Jahren – links aber liegen lasse. Die Riegel stecken im Trikot und die Trinkflachen sind auch noch gut gefüllt.

2: Der Brenner / 2018
2017 bin ich im Kurzarmtrikot am Kühtai angekommen und habe nur zur Abfahrt schnell die Windjacke übergezogen. Doch jeder Ötzi ist anders, wenngleich sich an der Strecke seit 2003 nur im Ausnahmejahr 2021 (Steinschlag am Kühtai) nur wenig geändert hat. Die größte unberechenbare Konstante ist das Wetter. 2018 wurden die Teilnehmer am Kühtai mit Schneeregen empfangen. Das war eine unlustige Angelegenheit. Aber ich hatte die Erlebnisse des Vorjahres noch in so guter Erinnerung, dass ich mir von Regen und Schlechtwetter nicht die Butter vom Brot nehmen lassen wollte und mich weiter durchkämpfte. (Details zum Ötzi 2018 hier im Bericht: Ötztaler Radmarathon 2018 – Tour de force )

Bei Schönwetter ist die Abfahrt auf der für den Auto gesperrten Kühtai-Straße ein Genuss. Ein rasantes Erlebnis, bei der Top-Fahrer über 100 km/h erreichen. Bei Schlechtwetter schaut die Sache aber ganz anders aus. Zumal ich 2018 noch mit Felgenbremsen und 25mm-Reifen unterwegs war, die dann kein großes Gefühl der Sicherheit mehr vermitteln. Irgendwann war die Abfahrt dann aber doch vorüber, im Tal lockerte es auf, sogar die Sonne blinzelte ein klein wenig durch die Wolken und es ging weiter, flach nach Innsbruck und dann zum Brenner.

2018 wusste ich schon, was für ein heimtückischer Geselle der Brenner ist. Einer, den man nicht unterschätzen sollte. Ich und ich bemühte mich also, mein Tempo, meine Trittfrequenz und meine Atemfrequenz stabil zu halten. Zumal sich oben an der Passhöhe schon wieder die Wolken zusammenbrauten. Kräfte schonen war angesagt.

3: Der Jaufenpass / 2019
Ein Jahr später war ich oben, an der Brenner-Labstation dagegen voll auf Kurs Richtung persönlicher Ötzzi-Bestzeit. Meine Marschroute hieß “2/4/6/9”: Nach 2 Stunden am Kühtai, nach 4 Stunden am Brenner, nach 6 Stunden am Jaufen, nach 9 Stunden am Timmelsjoch und nach knapp 10 Stunden in Sölden im Ziel.

Der 1. September 2019 war aber auch ein Tag, wie man sich ihn zum Rennradfahren kaum besser wünschen kann. Und ich war auch bestens vorbereitet und fit. Hatte ich zwei Jahre davor noch gezittert hatte, rechtzeitig vor Ablauf der Karenzzeit am Brenner zu sein, schielte ich auf eine Zielzeit von unter 10 Stunden. (Spoiler: Das sollte mir bei 6 Ötzi-Teilnahmen nie gelingen).

Von der Labstation am Brenner stürzte ich mich in die Abfahrt nach Sterzing, um dann gleich darauf – praktisch ohne Verschnaufpause – zur Jaufenpass-Straße zu kommen.

Herausgeputzt für den Ötzi: Mit “Käthe”, dem seligen KTM Alto Elite im Jahr 2019, kurz vor der Kühtai-Sattelhöhe. Ewiges Motto: “Ride with a smile.”

Der Jaufen ist im Grunde ein Berg zum Meditieren. Er fordert schön gleichmäßig Leistung, ohne einen in den roten Bereich zu zwingen. Erst durch den Wald, dann bei Kalchgrub zum unvermeidlichen Skigebiet und zur Labstation, knapp vor der eigentlichen Passhöhe

… und / 2020

Wenn die Auffahrt auf den Jaufenpass ein Erlebnis ist, dann ist Abfahrt nach St. Leonhard ist erst recht eines. Die Straße ist nicht im besten Zustand, aber wie alle Abfahrten für den Verkehr gesperrt. Wer Ängste hintanstellt und sich ein Herz nimmt, belohnt sich selbst mit einer fast 20 Kilometer langen Abfahrt über knapp 1.400 Höhenmeter. Ein wichtiger Reminder: Auf jeden Fall mit neuen Bremsbelägen zum Ötzi kommen. Dann wird die gut 20 Minuten lange Abfahrt zu einer aktiven Erholung, die einen einem fetten Grinser ins Gesicht zaubert.

2020 hatte aber die Corona-Pandemie Europa fest in Griff. Und der Ötztaler Radmarathon wurde zum “runden, 40. Geburtstag” abgesagt. Einige hartgesottene ließen es sich dennoch nicht nehmen, am eigentlichen Renntag ins Ötztal zu fahren und dort – bei äußert widrigen Bedingungen – die Original-Schleife auf eigene Faust und ohne Labsatationen zu fahren.

Für alle Anderen – darunter auch mich – haben die Veranstalter den “Ötztaler Social Radmarathon” ins Leben gerufen. Die Challenge: Am Wochenende, an dem der Ötzi geplant war, 238 km zu fahren.

Nur die Distanz? Was bitte ist ein Ötzi ohne Höhenmeter? Und so habe ich praktisch vor der eigenen Haustür im Wienerwald eine Strecke gesucht, die beide Parameter erfüllt. Den “Wienerwald-Ötzi”: 8 Runden rund um das Schöpfl, dem höchsten Berg im Wienerwald. In Summe 253 Kilometer und 5.300 Höhenmeter mit einem Höhenprofil wie eine Fieberkurve.

Mit meinem Freund Wolfgang machte ich mich an das Abenteuer. Wolfgangs Auto wurde dabei zur Labstation umfunktioniert, an der Schöpfl-Höhe geparkt und bei jeder zweiten Runde kurz angefahren.

Ötztaler Social Radmarathon im Wienerwald (29. August 2020)

Es war eine unerwartet zähe Angelegenheit, auch weil wir beide im Corona-Jahr nicht richtig austrainiert waren. Mit einer Fahrzeit von knapp 13 Stunden blieben wir aber zumindest in der offiziellen Karenzzeit. Und waren uns danach einig, den “echten” Ötzi auf jeden Fall möglichst bald wieder fahren zu wollen.

4: Das Timmelsjoch / 2021

2021. Nach einem Jahr Pause wieder zurück in Sölden. Immer noch ist Corona allgegenwärtig, aber zumindest ist die Pandemie am Rückzug und soweit kontrollierbar, dass mit Impfnachweisen und Tests, Abstand- und Verhaltensbestimmungen für die Labstationen wieder ein Ötzi stattfinden kann. Auch ein Felssturz an der Kühtaistraße konnte die das Rennen nicht verhindern. Es musste nur eine alternative Route über den Haiminger Berg gefahren werden. Kein Grund zum Jubeln war die Schlechtwetterprognose, die – wieder einmal – Schlimmes befürchten ließ. Viele, die einen Startplatz hatten, reisten deshalb auch gar nicht nach Sölden an.

Ich ließ mich nicht abhalten – weder vom Steinschlag, noch vom Schlechtwetter, auch nicht von Corona. Beinahe hätte mich aber eine Verbrennung, die ich mir zwei Wochen vor dem Ötzi zugezogen hatte, noch aus der Startliste geworfen. Ich konnte bis zum Start praktisch nur noch mit hochgelagertem Bein herumsitzen, abwarten und hoffen, dass das Bein rechtzeitig wieder belastbar wird.

Es wurde. Zwar nicht so, wie ich mir das gewünscht hatte, aber es war eine Freude und Ehre, wieder am Start zu sein, nach einem Jahr ganz ohne Radrennen. Und so war der Jubiläums-Ötzi einmal eine ganz spezielle Genussfahrt. Auch wenn weder der Körper noch das Wetter richtig mitspielten und wenn des Steinschlags ein Umweg gefahren werden musste.

Der olympische Gedanke war Motivation genug. Dabei sein. Durchhalten. Und als große Belohnung zum Schluss die alte, malerische italienische Militärstraße hinauf zum Timmelsjoch fahren zu können. Dann durch den Tunnel nach Österreich und weiter zur Abfahrt nach Sölden, mit der Mautstation als kurzen Gegenhang und den Teufelslappen bei Zwieselstein als letzten Schupfer vor dem Ziel, wo das Finisher-Trikot als Trophäe wartet.

Zu “siegen” bedeutet für mich ohnehin etwas Anderes als für diejenigen, die am Start in den ersten Reihen stehen. Ein Ötzi-Finish ist ein Sieg über mich selbst. Über das Alter und die Bequemlichkeit, die Komfort-Zone, in der wir uns meistens gerne bewegen. Wer die Ötzi-Runde fährt sollte sie auch genießen. Sich darüber freuen, dass die Strecke für den Verkehr gesperrt und abgesichert ist. Dass an allen Ecken und Enden Streckenposten und hilfsbereite freiwillige Helfer postiert sind, die nötigenfalls schnell zur Stelle sind. Dass es an den Labstationen auch für die letzten im Feld, Stunden nach den Spitzenreitern, immer noch reichlich Essen und Trinken gibt. Die Strecke mit Gleichgesinnten erfahren im wahrsten Sinn des Wortes.

Das Timmelsjoch, der “Passo Rombo”, ist ein harter Endgegner. Eine 26,5 km lange Auffahrt von St. Leonhard über 1.750 Höhenmeter, bei der es auf gut halber Höhe ein kurzes flacheres Stück und die Labstation Schönau gibt. Aber wer den Pass bezwingt, hat es fast geschafft. Auch wenn bei der Abfahrt nach Sölden Schlechtwetter wartet. Wer im Ziel ankommt, ist ausgepowert und glücklich, dabei gewesen zu sein. Umgeben von zufriedenen Finishern, die sich ihren Traum erfüllt hatten und als Lohn ihre Finisher-Shirts überziehen.

5 + 6: 2022 + 2023

“Ich habe einen Traum” ist das Motto des Ötztaler Radmarathons. Mit Träumen kommt man allerdings nicht besonders weit. Es gehören viel Engagement, Schweiß und mentale Stärke dazu, das Ding ins Ziel zu bringen

Auch 2022 und 2023 konnte ich wieder beim Ötzi dabei sein. Und alles war – wie immer – gleich und doch jedes Mal ein bisschen anders. Leicht geänderte Streckenführungen und im Jahr 2023 ein auf Anfang Juli vorgezogener, richtiger “Sommer-Ötzi” machten jede Austragung zu einem einmaligen und besonderen Erlebnis. Gerne wieder einmal. Vielleicht, wenn ich alt genug bin, um in der Senioren-Klasse (60+) zu starten. Das wäre dann 2029. Bis dahin ist es an der Zeit, möglichst viele andere Bergwelten zu erkunden.

See you on the road!


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